Besucherforschung revisited
Was leistet empirische Marktforschung?
Unter dem Titel «Comparing Visitors and Non-Visitors Motivations and Sociodemographics: The Case of the Swiss Science Center Technorama» ist vor wenigen Tagen ein weiterer Beitrag zur Besucherforschung erschienen, die ich seinerzeit im Technorama initiiert und mitverantwortet habe. Es ist mit grosser Wahrscheinlichkeit die letzte Ausbeute aus den insgesamt drei verschiedenen Forschungsprojekten in Zusammenarbeit mit der ZHAW, auf die ich immer noch gerne zurückblicke.
Der Beitrag in der Zeitschrift für Kulturmanagement und Kulturpolitik zeichnet nach, wie diese Untersuchungen aufeinander aufbauen und wie die daraus abgeleiteten Erkenntnisse mustergültig in die Marketingkommunikation überführt wurden, inklusive repräsentative Personas mit Testimonials. Seitdem eilt das Technorama von einem Besucherrekord zum nächsten. Spoiler: Ob und inwiefern diese Kampagne dazu beigetragen hat, wird vermutlich nie zu klären sein – aber es lässt sich immerhin festhalten, dass sie diese erfolgreiche Entwicklung auch nicht verhindert hat.
Das Menschenbild der Besucherforschung
Wer wissenschaftliche Besucherforschung betreibt, der geht von vernünftigen Menschen aus. Die Besucherinnen und Besucher des Technorama kommen nicht einfach so nach Winterthur, sondern mit bestimmten Ansprüchen und Erwartungen. Wenn sie für einen Besuch Zeit und Geld (der Eintritt für Erwachsene kostet mittlerweile stolze CHF 33) aufbringen, dann tun sie das aus guten Gründen.
Im Kern will Besucherforschung verstehen, wie diese schlüssige Handelsbeziehung funktioniert. Hart verdientes Geld gegen bestimmte Bedürfnisse: Der Nutzen, den Menschen aus einem Besuch ziehen, muss für diese erkennbar und überprüfbar sein. Qualität hat immer zwei Seiten: Es gibt sie nicht nur angebotsseitig wie der Zucker im Kuchen, sondern schlägt sich auch in der jeweiligen Nachfrage nieder.
Diese Nachfrage zu steigern ist Ziel jeder Besucherforschung. Das Schlüsselwort heisst Teilhabe: Die Inhalte sind es grundsätzlich wert, dass sie bei einer Mehrzahl von Besucherinnen und Besuchern bekannt sind, dass sie geschätzt und gegenüber anderen Inhalten bevorzugt werden. Mehr Teilhabe bedeutet mehr Besucherinnen und Besucher, so einfach ist das. Wer hier nicht liefern will, der sollte auch niemanden einen Fragebogen ausfüllen lassen. Dass mit der Stärkung der Nachfrage auch die Ticketeinnahmen gesteigert werden, ist Teil der Gleichung.
Erlebnisrationalität
Zur Wahrheit in der Besucherforschung gehört aber auch, dass sich der vorgenannte «Nutzen» zwar in erfüllbare Ansprüche und Erwartungen übersetzen lässt – dass aber das, was wirklich gemeint ist, sich einer exakten Beschreibung entzieht. Auch noch so vernünftige Besucherinnen und Besucher wissen nicht genau, was sie suchen. Sie haben aber interessanterweise eine ziemlich klare Vorstellung, wie sich dieser «Nutzen» anzufühlen hat. Der Soziologe Gerhard Schulze hat dafür den schönen Begriff der Erlebnisrationalität geprägt und diese als «Selbstmanipulation durch Situationsmanagement» beschrieben.
Erlebnisrationale Entscheidungsprozesse dominieren heute jede Form der Freizeitgestaltung. Niemand besucht mehr eine Veranstaltung, wenn das Risiko besteht, dass einem diese «nichts bringt». Die Fans von Taylor Swift entscheiden handlungsrational, wenn sie stundenlang für ein Konzert anstehen, genauso wie die Menschenmassen auf der Rialtobrücke in Venedig oder im Louvre in Paris, auch wenn jeder Einzelne nur seinen persönlichen Beitrag zum Overtourism leistet.
Masshalten als goldener Mittelweg
Für Kulturinstitutionen ist dieser Befund ein zweischneidiges Schwert. Ein volles Haus ist ein tolle Sache, aber ein zu volles Haus schmälert das Erlebnis des Einzelnen. Am Schluss verlieren beide: Das Haus kann die Qualität der Angebote nicht mehr gewährleisten, weil sich die Besucherinnen und Besucher gegenseitig im Weg stehen.
Wer Besucherforschung betreibt, wer die Motive seiner Besucherinnen und Besuchern nicht nur zu (er-)kennen, sondern auch anerkennen will, muss sich also ehrlich machen und Grenzen ziehen. Authentisch erlebbare Inhalte können den Ansprüchen und Erwartungen einer bestimmten Anzahl Menschen entsprechen – aber von nicht allen.
PS: Der Beitrag «Comparing Visitors and Non-Visitors Motivations and Sociodemographics» ist auf Anfrage beim Technorama erhältlich.