Blog Übersicht

Der Hans, der Georg und der Nägeli

Premiere Chorspektakel

Zwischenbilanz 250 Jahre Hans Georg Nägeli

Halbzeit bei «250 Jahre Hans Georg Nägeli». Das Jubiläum dauert zwar noch bis November 2023, aber eine Zwischenbilanz kurz vor der Sommerpause ist natürlich sinnvoll. Leider fällt sie nicht positiv aus: Mit Blick auf die gesetzten Ziele ist es bislang nicht gelungen, hinreichend Aufmerksamkeit für das Leben und Wirken Hans Georg Nägelis zu wecken.

Das hat viel mit den verschiedenen Rollen Nägelis als Komponist, Verleger, Musikpädagoge und Chorleiter zu tun. Der Titel des Chorspektakels, das Mitte Juni 2023 zur Aufführung kam, wurde mit viel Bedacht gewählt: «Der Hans, der Georg und der Nägeli». Neben einer fünfteiligen Vortragsreihe und einer Ausstellung im Museum Wetzikon war dieses Chorspektakel der dritte Versuch, Nägeli in seiner Vielseitigkeit gerecht zu werden. Aber auch dieser Anlauf konnte das Image Nägelis als «Sängervater der Schweiz» nicht durch ein zeitgemässes Bild ersetzen.

Kulturvermittlung ist bekanntlich immer auch Komplexitätsreduktion – im Informationszeitalter ist das gewissermassen der neue kategorische Imperativ. Es geht darum, die Dinge auf den Punkt zu bringen, nicht um Differenzierung. Im Falle von Nägeli steht einem genau diese im Weg und muss erst weggeräumt werden, bevor man zum Kern seines Schaffens vordringen kann. Ja, er hat Beethoven verlegt und sich erlaubt, vier Takte in eine Klaviersonate hineinzukomponieren. Nein, das Lied «Freut euch des Lebens» ist nicht von ihm, wird ihm aber zugeschrieben. Ja, er hat den ersten Männerchor, den ersten Frauenchor und den ersten Kinderchor gegründet. Und ja, auch das Musikhaus Hug geht auf ihn zurück. Nägeli hat viele und sehr verschiedene Spuren gelegt, die mal parallel verlaufen, sich mal kreuzen, ineinander übergehen und mühsam auseinander gedröselt werden müssen. Die langerwartete Biografie von Martin Staehelin, die in diesen Tagen erschienen ist, bringt diese Kärrnerarbeit exakt auf den Punkt – bedenkt man, dass er 1973 damit begonnen hat. Das Werk hat knapp 800 Seiten, wiegt gut 1 ½ kg und wird vermutlich kein Verkaufsschlager.

Hans Georg Nägeli und wir

Die Schwierigkeiten einer Annäherung an Hans Georg Nägeli liegen aber bei uns: Wir verstehen nicht mehr, warum und wozu er seine Mitmenschen «durch und mit der Musik erziehen» wollte. Sein zutiefst humanistisches Bildungsverständnis und die Überzeugung, dass Freiheit im Kern bedeutet, dass jeder seines eigenen Glücks Schmied sei, sind uns fremd geworden. Wir hören seine – im Vergleich mit Bach und Beethoven – nicht ganz so tolle Musik, folgen den mal vaterländischen, mal biedermeierlichen Texten ohne tiefere Einsicht. Das Glück und die Dankbarkeit von «Freut euch des Lebens» erschliessen sich uns nicht mehr.

Die vergessenen Denker und Künstler kriege man einfach nicht ins Rampenlicht, tröstet mich ein alter Bekannter, er sei mit ähnlichen Projekten oft aufgelaufen. Dass es nicht gelingt, beim breiten Publikum und in den Medien Interesse an Hans Georg Nägeli zu wecken – geschenkt. Schwerer wiegt die fehlende Resonanz in der lokalen Bevölkerung und insbesondere bei den ansässigen Chören. In Wetzikon sind knapp zehn Gesangsvereine aktiv, hier befindet sich auch die MZO, die Musikschule Zürcher Oberland mit fast zwanzig (!) Chorangeboten für Kinder und Jugendliche. Es gibt nicht nur eine Hans Georg Nägeli-Strasse, sondern auch mehrere Büsten und Gedenktafeln. Nägeli ist in Wetzikon überaus präsent – anders als in Zürich, wo die Kulturabteilung nicht einmal mehr wusste, dass sie eine Hans Georg Nägeli-Medaille vergibt. Wie ist dieses Desinteresse zu erklären?

Was aber, wenn das die falsche Frage ist? Was ist, wenn es den Umweg über Nägeli nicht mehr braucht, weil sich seine Vorstellungen und Hoffnungen längst verwirklicht haben? Was ist, wenn es keine Barrieren mehr gibt und keine Appelle mehr braucht? Was ist, wenn Menschen lieber aktiv in einem Chor singen wollen, anstatt theoretisch darüber zu reflektieren?

Fotonachweis: eigenes Bild