Kodo Sawaki
Über Zen lesen
Meine kleine Zen-Bibliothek misst einen knappen Meter. Aneinandergereiht sind da Klassiker wie «Der 6. Patriarch kommt nach Manhattan» oder Philipp Kapleaus «Die drei Pfeiler des Zen» zu finden. Natürlich gibt es auch die Zen-Bücher des holländischen Krimiautors Janwillem van de Wetering. Und neben den «Anweisungen für den Koch» von Bernard Glassman, Katsuki Sekidas «Zen-Training» und dem wunderbaren «Im Herzen der Stille» der früh verstorbenen Maura O'Halloran stehen auch viele englischsprachige Bücher im Regal, die ich mal in einem einschlägigen bookstore in San Francisco zusammengekauft habe und in denen ich jeweils morgens nach der Meditation las und dazu einen Kaffee trank. Aber seit vielen Jahren kaufe ich keine Zen-Bücher mehr. Lesen und Sitzen sind zwei sehr verschiedene Dinge: Wer lange und regelmässig sitzt, dem schmeckt das Lesen über Zen nicht mehr. Bis auf diesen Kodo Sawaki.
No bullshit
Schon der Titel des Buchs spricht für sich: Zen ist die grösste Lüge aller Zeiten. Das schmale Bändchen enthält 49 kurze Kapitel mit Titeln wie: «Du willst Satori? Um es dir als Ring durch die Nase zu ziehen!?». Oder sie enthalten Hammersätze wie etwa: «Du bist so wie einer, dem ein Stück Scheisse an der Nase hängt und der fragt: ‚Wer hat hier gefurzt!?‘ So lange du auf diese Weise suchst, wirst du es nie finden.» Dieser Kodo Sawaki – ich gebe das gerne offen zu – spricht zu mir.
Zazen
Und er spricht viel von Zazen – also vom Sitzen. Zen ist ja keine Philosophie, über die man theoretisch nachdenken soll, sondern in erster Linie eine Praxis. Über das praktische Sitzen ist Zen immer sehr bodenständig, hemdsärmelig und unverblümt. In vielen Koans blitzt das auf, etwa im «Mu» (Nichts / Da ist nichts) als Antwort auf die Frage «Hat ein Hund die Buddha-Natur oder nicht?». Über Zen soll man nicht räsonieren, sondern besser seine Reisschale reinigen.
Diese Fokussierung Kodo Sawakis auf das Zazen ist nicht nur sein Vermächtnis als Erneuerer des Soto-Zens (die Praxis des Zazen war damals innerhalb der Soto-Schule fast vergessen), sondern verweist auch die Stufen der Wahrnehmung bei Immanuel Kant. Am Anfang steht immer das Ereignis. Wenn wir dieses Ereignis wahrnehmen, dann wird es erst zum Erlebnis und – wenn wir es mit ähnlichen Erlebnissen in Verbindung bringen – allenfalls zu einer Erfahrung. Ob aus dieser Erfahrung schliesslich eine Erkenntnis erwächst, steht wiederum auf einem ganz anderen Blatt.
Beim Zazen geht es um das objektive Ereignis des Sitzens. Wie ich dieses Sitzen subjektiv erlebe, ob als angenehm, als schmerzhaft, als erfüllend oder als langweilig, ist zweitrangig. Und ob daraus eine «Erfahrung» wird, spielt überhaupt keine Rolle. Das meint Kodo Sawaki mit Satori, das man sich als Ring durch die Nase ziehen will. Nur das Ereignis zählt – dieser eine Moment.