Musizieren und Sprechen
Wieso müssen wir üben?
Wer musiziert, muss üben – ganz egal, ob ein Kind ein Instrument zu spielen beginnt, ich als Amateur beim Musikverein Meilen mitspiele oder ein Berufsmusiker ein neues Stück erarbeitet. Üben ist unser aller Alltag und erfordert Zeit, Konzentration, Disziplin und viel Geduld. Warum ist das so? Warum gibt so viele Konzepte zum «richtigen Üben», noch mehr Strategien und eine geradezu überbordende Fülle an einschlägigen Podcasts und YouTube-Tutorials? Warum können wir nicht so musizieren wie wir sprechen?
Musikalische Analphabeten
Weil uns die Sprache der Musik nicht so beigebracht wurde, wie wir erst das Sprechen und dann das Lesen und Schreiben gelernt haben. Ich erinnere mich noch gut an unseren Musiklehrer Urs Moll (sic!) am Lehramt in Winterthur, der uns als musikalische Analphabeten bezeichnete, wenn wir eine einfache Melodie wieder einmal nicht aufschreiben konnten, die er uns am Klavier vorgespielt hatte. Dass der Lehrplan derweil die harmonische Analyse von Sonaten und Fugen von Johann Sebastian Bach vorsah, schriftliche Prüfungen inklusive, brachte nicht nur ihn zum Verzweifeln.
Warum lernen wir das Musizieren nicht wie Kinder sprechen lernen? Niemand bezweifelt, dass ein Kind das kann, wenn es in einer Umgebung aufwächst, in der sich Erwachsene frei unterhalten. Wenn wir sprechen, dann improvisieren wir ständig. Von stehenden Redewendungen abgesehen, ist jede unserer sprachlichen Äusserungen eine Eigenkomposition, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat. Warum müssen wir musikalische Inhalte erst in Intervalle, Arpeggien und Skalen aufbrechen, um sie dann mühevoll technisch einzuüben?
Spracherwerb vs. Musikunterricht
Diese Frage beschäftigte nicht nur den Musikpädagogen Heinrich Jacoby, dessen Todestag sich am 25. November 2024 zu 60sten Mal jährt. Praktisch zur selben Zeit entwickelte auch der japanische Violinist und Musikpädagoge Shinichi Suzuki die nach ihm benannte Suzuki-Methode, damit Kinder – analog zum Spracherwerb und also ohne Notenlesen – allein mit Hilfe von Hören, Beobachten und Nachahmen ein Musikinstrument spielen lernen.
Einschub: Von Musikpädagogik verstehe ich wenig bis nichts. Ich masse mir darum nicht an, die Herangehensweise von Heinrich Jacoby oder die als «Muttersprache-Technik» bezeichnete Suzuki-Methode sachgerecht beurteilen zu können. Auf meine Rückfrage bei befreundeten Musiklehrern konnte mir allerdings keiner eine gute Begründung nennen, warum sich das Lernen nach Gehör nicht durchgesetzt hat.
Unmusikalisch…?
Sowohl für Jacoby als auch für Suzuki war der kindliche Spracherwerb das gültige Modell, an dem sich der Musikunterricht orientieren müsste. Wenn ein Kind mit Musik aufwächst und entdeckt, dass es selbst die Töne erzeugen vermag, mit denen es sich mittteilen kann, dann wird es sich nach wenigen Jahren auch musikalisch spontan ausdrücken können. Es hat alles übers Ohr gelernt, absichtslos und frei von Angst vor etwaigen Fehlern – grad so, wie es Sprechen gelernt. Es versteht sich von selbst, dass es unter diesen Bedingungen so etwas wie «fehlendes Talent» oder «unmusikalisch» nicht geben kann.
Die Suzuki-Methode richtet sich explizit an Kinder, idealerweise noch bevor sie in die Schule eintreten. Sie ist ebenso stark strukturiert wie streng reglementiert. Jacoby wiederum liess zu seinen Musikkursen nur Erwachsene zu, damit sie nachträglich die Sprache der Musik erwerben konnten. Und anders als wie bei Suzuki ging es dabei nicht um «Stücke-spielen» oder um die technische Bewältigung von Musik, schon gar nicht von geschriebenen Kompositionen als gedruckte Noten. «Üben» war für Jacoby sogar ein regelrechtes Reizwort.
Einschub 2: Es ist vermutlich kein Zufall, dass Jacoby eine Zeitlang an der reformpädagogischen Odenwaldschule tätig war, an der Martin Wagenschein ab 1924 das sogenannte «genetisch sokratische exemplarische Lehren» entwickelte, das den mathematisch-physikalischen Schulunterricht nachhaltig geprägt hat (und bis heute das didaktische Rückgrat im Technorama bildet).
Und heute?
Während Heinrich Jacoby weitgehend in Vergessenheit geraten ist, hat sich die Suzuki-Methode fest etabliert, sowohl in Europa als auch in den USA, wo besonders viele Berufsmusiker als «Suzuki-Kinder» begannen.
Interessanterweise ist das Musiklernen nach Gehör im Jazz weitverbreitet, ohne dass sich ein Bezug zu Jacoby und Suzuki nachweisen liesse. Es gibt Workshops und Kurse, in denen Standards ohne Noten erarbeitet werden. Auch bei Jam Sessions gilt (weitgehend) die Regel, dass nicht nur die Melodie auswendig gespielt wird, sondern die Solisten auch die jeweiligen Akkorde kennen bzw. hören können, um darüber zu improvisieren. Aber das ist ein anderes Thema.
Quellen: Walter Biedermann, Unmusikalisch…? Die Musikpädagogik von Heinrich Jacoby, Aarau 1993