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Prima la musica et poi le parole

Joachim Kaiser und Marcel Reich-Ranicki

Erst die Musik und dann die Worte?

Eingeweihte wissen natürlich, dass das geflügelte Wort auf eine Theatersatire des Wiener Hofkapellmeisters Antonio Salieri von 1786 zurückgeht. Ob die Musik oder das Wort wichtiger sei, hat Komponisten und Librettisten immer wieder beschäftigt; Richard Strauss stellte diesen Konflikt sogar in den Mittelpunkt seiner Oper «Capriccio». Einige wenige mögen sich sogar an ein prominent besetztes Podium mit Marcel Reich-Ranicki, Joachim Kaiser und August Everding zu diesem Thema erinnern, das es auch als Buch gibt und das man auf YouTube nachsehen kann. Diese Diskussionsrunde ist übrigens eine Perle der Kulturvermittlung im TV und immer noch sehenswert.

Das komplizierte Verhältnis zwischen Wort und Musik beschäftigte auch Hans Georg Nägeli, mit dem ich mich im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Jubiläumsprojekt 2023 auseinandersetze. Für die «Gesangsbildungslehre nach Pestalozzis Grundsätzen» verfasste er sieben Aufsätze, die jedoch nie veröffentlicht wurden. Dazu gehören auch die beiden Beiträge «Das Verhältniss der Dichtkunst zur Tonkunst» und «Das Verhältniss der Tonkunst zur Dichtkunst». Unter dem Titel «Die Individual-Bildung» befinden sich alle sieben Aufsätze in der Zentralbibliothek Zürich.

In Nägelis eigenen Worten laufen die beiden Künste «bunt und vielgestaltig neben und durch einander; bald behauptete die Eine den Vorschritt, bald die andere. Darnach gestalten sich die Formen und Gattungen der Vocalmusik.» Unter dem Gesichtspunkt des künstlerischen Schaffens gibt Nägeli jedoch unmissverständlich dem Wort den Vorzug: «Was der Dichter dichtet, componirt der Musiker hinter drein, selten zugleich, meistens nach geraumer Zeit, oft lange nachher.»

Form und Inhalt

Beide Aufsätze thematisieren das Verhältnis zwischen Wort und Musik auch unter technischen Aspekten, um den unterschiedlichen Kunstformen gerecht zu werden. Diese Aspekte reichen von der Abfolge sprachlicher Hebungen und Senkungen (v/o Versmass – aber den Begriff kennt heute ja niemand mehr) über die gereimte Strophenform bis hin zu den formalen Bedingungen, die es im Fall von kurzen Gedichten zu bedenken gibt: «Unser Harmoniesystem, unsere Technik, steht dem Gelingen solcher Compositionen entgegen. Ein Gedicht von vier bis acht Zeilen ist für die Composition zu klein.» Ein Dichter kann in dieser Kleinheit einen Hauptgedanken mit wenigen Nebengedanken zu einem Gedanken- oder Anschauungskreis verbinden. Der Musiker muss ebenfalls einen solchen Kreis bilden, allerdings «bedarf er eines etwelchen Wechsels von harten und weichen Dreyklängen, von Stammaccorden und umgekehrten, von Consonanzen und Dissonanzen, und darüber hinaus etwas von Modulation, wenigstens einer förmlichen Ausweichung in die Dominante.»

Eigentlich ist das die klassische Singer-/Songwriter-Problematik: Wie unterlegt man einem Gesangstext die passenden Melodien, die auch musikalisch Sinn machen? Wie vermeidet man Textwiederholungen oder instrumentelle Passagen, die eine Zeile verlängern und eine prägnante Aussage möglicherweise inhaltlich verwässern? «Werden diese Textwiederholungen vervielfacht, oder wird gar solch ein Uhlandsches Gedichtchen zweymal mit ungleichen Noten ganz durchgesungen; oder wird dabey, was häufig geschieht, die Composition noch mit Vor-, Zwischen- und Nachspielen verlängert; so entsteht aus einem kleinen netten Ding, wie die Uhlandschen Liederchen sind, ein grosses Unding; […].»

So weit entfernt dieser Hans Georg Nägeli mit seiner Verehrung für Klopstock, Goethe und Uhland auch erscheint, so nah ist er den Rappern und Hip-Hoppern heutzutage. Die Schwierigkeit liegt nur darin, diese Nähe zu erkennen.

Weitere Informationen: Formbegriffe der Pop- und Rockmusik

Fotonachweis: SZ Photo