Vom Geist des Übens
Musikalisches Üben aus anderer Perspektive
Im Zuge meiner Beschäftigung mit dem musikalischen Üben bin ich auf das schmale Bändchen «Vom Geist des Übens» des deutschen Philosophen Otto Friedrich Bollnow (1903 – 1991) gestossen, das sich als eine wahre Fundgrube für das «richtige Üben» erweist. Die Schrift mit dem Untertitel «Eine Rückbesinnung auf elementare didaktische Erfahrungen» ist aus Bollnows Begegnung mit der japanischen Kultur erwachsen, in der das «Üben» – speziell im Zen-Buddhismus – bekanntlich eine zentrale Rolle spielt. Seine gleichermassen pädagogische wie philosophische Studie von 1978 verbindet somit gleich alle drei Themen dieses Blogs.
Im Kern legt Bollnow dar, wie ein inhaltliches Orientierungswissen einerseits zum Verständnis des Menschen beitragen kann und andererseits einen Beitrag zu einer eudämonistischen Ethik zu leisten vermag – also nach der Frage nach dem «guten Leben», die in der Philosophie seit jeher eine zentrale Rolle spielt.
Üben ist Können-Wollen
Dieses «Üben» grenzt Bollnow sowohl gegenüber dem Drill als auch dem Training scharf ab, auch wenn es bei jedem Üben immer darum geht, in einer bestimmten Sache besser zu werden. An die Stelle der reinen mechanischen Selbstoptimierung tritt bei Bollnow die Selbsterkenntnis: «Das Können-Wollen und Immer-besser-können-Wollen hängt also unmittelbar mit der Selbstverwirklichung des Menschen zusammen, und zwar so, dass der Ausgang des Können-Wollens ungewiss ist und der Mensch erst im 'Versuchen und Wagen' erfährt, was er kann. Aber er erfährt zugleich auch, was er nicht kann. Erst im bis an die Grenze vordringenden Versuchen erfährt also der Mensch, was er ist. [Josef] König fasst das in dem prägnanten Satz zusammen: 'Der Mensch ist das, was er vermag'.»
Tatsächlich ist jedes «Üben» immer auch eine Begegnung mit sich selbst. Es verlangt uns Geduld, Ausdauer und Disziplin ab, es zerknirscht und bringt uns zur Verzweiflung, es bereitet aber auch grosse Glücksmomente und lässt uns tiefe Befriedigung empfinden. Wer ein Musikinstrument spielt und also musikalisch übt, der kennt diese Angriffe auf das eigene Ego nur zu gut.
Die Übung als Weg zur inneren Freiheit
Dieses Ego als Gemengelage aus Eigenwillen, Sorgen, Ängsten und Gier steht im Mittelpunkt von Bollnows Überlegungen und muss überwunden werden. Er führt dazu den Begriff der Gelöstheit ein, der im Kern dem Begriff der Nicht-Anhaftung entspricht. Hier verbindet sich die Praxis des «Übens» mit der Praxis des Zen-Buddhismus. Bei beiden geht es um das Sich-Lösen weg vom Eigenwillen hin zur Aufmerksamkeit und Konzentration auf den Moment: Jetzt. Jetzt. Jetzt. Bollnow bezieht sich dabei auf Eugen Herriegels «Zen und die Kunst des Bogenschiessens» (wobei er klug genug ist, um darauf hinzuweisen, dass diese Form des «Übens» in einen kulturellen Kontext eingebettet ist, der sich Fremden nicht wirklich erschliesst).
Das Üben als wenig geschätztes, aber notwendiges Übel, um spezifische Fertigkeiten zu erlangen, ist für Bollnow ein Missverständnis. Auch wenn man vordergründig übt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, so geht es letztlich um eine innere Sammlung, die es erst richtig einzuüben (sic!) und dann gewissenhaft auszuüben gilt. Die «Umkehr von der narzisstischen Selbstbezogenheit zur selbstvergessenen Hingabe» kann aber nicht direkt erreicht werden, sondern bleibt auf den «Umweg über das sich hingebende Üben» angewiesen, das stets zu wiederholen ist. Mit anderen Worten: Das «Üben» ist die eigentliche Übung – und umgekehrt.
Daraus erwächst eine innere Freiheit, die Bollnow wie folgt beschreibt: «Innere Freiheit (…) ist das Gefühl des Einklangs des Menschen mit den Bedingtheiten seiner Situation, wobei Situation als äussere und als innere Situation die Gesamtheit der Gegebenheiten bedeutet, zu denen der Mensch sich verhalten kann.» Wer also aufrichtig musikalisch übt, der versucht auch, ein glückliches Leben zu führen.
Jetzt. Jetzt. Jetzt.
«Vom Geist des Übens» steht bei http://wernerloch.de/133.html zum Download bereit.
Bildnachweis: Otto Friedrich Bollnow-Gesellschaft e.V.